Nicht ohne Grund wird Manuel Neuer als der derzeit weltbeste Torwart angesehen. Das liegt nicht nur daran, dass er Bälle sehr gut abwehrt – er ist auch dazu fähig, diese zu verteilen und so an der Spielgestaltung seiner Mannschaft teilzunehmen. Logisch, dass die anderen Torwarte versuchen, ihm das nachzumachen. Doch das klappt nicht immer. Die Gefahren des modernen Torwartspiels.
Die veränderte Bedeutung des Torwarts
Ein Torwart ist Torwart, weil er nicht Fußball spielen kann. – Ruud Gullit
Zugegeben, dieser Auspruch der niederländischen Fußball-Legende ist schon eine ganze Weile her. Heute würde Gullit diese Behauptung wohl kaum wiederholen, das Torwartspiel hat sich von Grund auf verändert. Längst spielen auf dem Platz nicht mehr nur zehn gegen zehn, auch der Schlussmann ist zur Schlüsselfigur geworden und trägt viel zum Schicksal seiner Mannschaft bei.
Ein Paradebeispiel dafür lieferte Manuel Neuer diesen Sommer in Porto Alegre. Bei der Weltmeisterschaft musste ein Sieg her, 2:1 hieß es am Schluss. Was hätten die Anzeigetafeln gezeigt, wenn ein Anderer das Tor der Deutschen gehütet hätte? Neuer war nicht grundlos der „Man of the Match“, denn er rackerte an diesem Tag, was das Zeug hielt. Meterweit vor dem eigenen Tor grätschte er den Algeriern den Ball weg, um in der nächsten Aktion mit einem zentimetergenauen 60-Meter-Abschlag einen Angriff der späteren Weltmeister-Elf einzuleiten.
Hoher Druck auf die Schlussmänner
Warum Torwarte nicht schon immer so gespielt haben? Um diese Frage zu beantworten, kann man sich wieder auf Ruud Gullit berufen. Der Torwart von früher war eben meist der, der mit dem Ball am Fuß nicht besonders viel anfangen konnte. Der, der nicht die beste Kondition hatte, nicht gerade der Schnellste im Team war. Heute ist das ganz anders: Der Torwart muss in athletischen, taktischen und spielerischen Belangen mit dem Rest des Teams zumindest annähernd mithalten können – und zudem eben das „Torhüter-Gen“ besitzen, also die ausgeprägte Fähigkeit, den Ball abzuwehren und zu halten.
Dies erfordert verstärktes und deutlich facettenreicheres Torwarttraining und somit eine erhöhte Belastung für die Keeper. Wie viel Druck tatsächlich auf die Schlussmänner wirkt, zeigt das Beispiel René Adler: Der ehemalige Leverkusener war als solcher kometenhaft aufgestiegen, galt als unanfechtbare Nummer Eins in der Nationalmannschaft. Doch eine Verletzung warf ihn aus der Bahn, und der junge Manuel Neuer verdrängte ihn mit seinem ultramodernen, neuartigen Torwartspiel.
Heute weiß ich, dass ich mir damals viel zu viel Druck gemacht habe, der Körper sucht sich dann ein Ventil, und bei mir waren das die vielen Verletzungen. Ich musste damals wirklich aufpassen, dass ich nicht in eine Depression verfalle. – René Adler
Modernes Torwartspiel birgt Gefahren
Doch wie perfekt ist das moderne Torwartspiel tatsächlich? Ohne Frage bringt es Vorteile en masse, aber wo Licht ist, gibt es auch Schatten. Man betrachte das Spiel des siebten Bundesliga-Spieltages dieser Saison, als Paderborn in Leverkusen zu Gast war. Süleyman Koc konnte sein erstes Bundesliga-Tor erzielen, da Bernd Leno zuvor gepatzt hatte. Bernd Leno, der eigentlich zur Riege dieser jungen, modernen Torhüter zählte, war hinausgelaufen, wir wissen nicht, ob er Manuel Neuer gegen Algerien im Hinterkopf hatte, doch als er den Ball wegschlagen wollte, traf er diesen unter Druck nicht. Die Folge war, dass Koc ungestört den Ball ins leere Tor passen konnte.
Ein weiteres Beispiel demonstrierte Fernando Muslera von Galatasary Istanbul: Der Schlussmann aus Uruguay fing sich am dritten Spieltag der Champions League das dritte Gegentor des Spiels, da er viel zu weit vor dem eigenen Tor stand. Marco Reus von den Gästen aus Dortmund erkannte den Fauxpas seinen Kontrahenten und schlenzte den Ball gekonnt über Muslera.
Als der FC Bayern am siebten Spieltag dieser Saison Hannover 96 empfing, wäre Xabi Alonso ein ähnliches Kunststück aus deutlich größerer Entfernung – nämlich von der Mittellinie – gelungen, doch Ron-Robert Zieler konnte den Ball in größter Not über die Latte bugsieren.
Vorteile nur bei perfekter Performance
Dies war nur ein kleiner Extrakt aus einer großen Anzahl von Fällen, wie den eben genannten. Denn zu erfolgreichem modernem Torwartspiel gehört eben nicht nur Wagemut. Aus den Zutaten Athletik, Ballgefühl, taktisches Verständnis und Timing besteht das Rezept, und fehlt auch nur eine dieser Komponenten, so wird modernes Torwartspiel manchmal mehr zum Fluch als zum Segen einer Mannschaft. Dies ist wohl auch der Grund, warum Manuel Neuer einzigartig ist: Kaum jemand versteht es, alle Zutaten perfekt zu kombinieren und anzuwenden.
Makellos kann die neue Rolle des Torwarts nun aber logischerweise auch nicht sein. Es ist ja auch nicht so, dass Bernd Leno ein schlechter Torwart wäre – in den meisten solcher Situation trifft er den Ball und klärt. Denn vergleicht man die moderne Rolle des Torwarts mit der klassischen, so fallen Fehler heutzutage weniger ins Gewicht – denn früher war der Torwart, blieb er auf der Linie, auch ohne dass er einen Fehler gemacht hätte, machtlos.
Mit Sicherheit werden weitere Revolutionen folgen, die Ansprüche an die Keeper werden noch höher werden. Eben weil nicht außer Acht gelassen werden darf, dass modernes Torwartspiel nicht nur ein Philosophiewechsel ist. Dieser Wechsel bringt eine Reihe wichtiger, nennen wir es Vorsichtsmaßnahmen, mit sich.