Interview mit Taktikfuchs Tobias Escher

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In der Reihe „Indirekt beteiligt“ sprechen wir mit Menschen, die im Fußball nicht die Hauptrolle spielen. Vielmehr interessieren uns die Perspektiven von Fernsehkommentatoren, Platzwarten oder Spielerberatern. In der ersten Ausgabe dieser neuen Reihe stellt sich Taktikfuchs Tobias Escher von Spielverlagerung.de den Fragen von Inside 11.

Inside 11: Hallo Tobias! Zuallererst stellt sich die Frage: Wann hast du den Fußball für dich entdeckt und woher kommt das große Interesse an Taktik?

Tobias Escher: Für mich entdecken musste ich den Fußball nicht, er war schon immer Teil meines Lebens. Von 7 bis 21 habe ich durchgehend im Verein gekickt. So richtig zum Fußballnerd wurde ich aber erst mit 20, als ich die Fußballtaktik für mich entdeckt habe.

Inside 11: Wie viel Fußball schaust du denn und ist es möglich, zwischen privat und beruflich zu trennen?

Tobias: Da ich mittlerweile hauptberuflich Taktikanalysen schreibe, schaue ich ziemlich viel Fußball. Am Wochenende schaue ich mindestens fünf Bundesliga-Spiele über 90 Minuten, meist noch mehr. Dazu kommen Champions League, Pokalwettbewerbe, Scouting internationaler Ligen. Da kommen locker zehn, zwanzig Stunden die Woche zusammen. Dementsprechend ist es aber mittlerweile auch Arbeit für mich. Nach Feierabend kann man mich mit Fußball jagen. Da daddel ich lieber Civilization oder lese ein Buch.

Inside 11: Du kümmerst dich um Spielverlagerung, hast aber auch noch andere Aufgaben. So schreibst du gelegentlich für 11 Freunde und bist jeden Montag bei Bohndesliga eingebunden. Gibt es einen typischen Arbeitstag und wenn ja, wie sieht der aus?

Tobias: Wenn ich ein Spiel analysiere, schaue ich mir das Spiel meistens erst einmal an und mache mir Notizen. Im Zweifelsfall spule dann noch einmal die wichtigsten Szenen zurück und schreibe dann meine Analysen. Die Analyse ist dann meist ein bis zwei Stunden nach Spielende fertig. Man darf aber bitte nicht denken: „Wow, der schaut nur Fußball, was für ein Traumjob!“ Ein Viertel meiner Arbeitszeit geht für organisatorische Aufgaben drauf, wie die Buchhaltung von Spielverlagerung oder das Pflegen von Kontakten.

Inside 11: Welche Vor- bzw. Nachteile hat es für dich, ein Spiel im Stadion zu verfolgen, statt wie gewohnt im TV?

Tobias: Es hat Vor-, aber auch Nachteile. Man sieht das gesamte Feld, ist nicht abhängig von der Totalen im TV, die oft nur das halbe Feld zeigt. Andererseits gibt es auch Anbieter, die für Scouting-Zwecke das gesamte Spielfeld in einer Hintertorkamera zeigen. Mit einigen arbeiten wir zusammen, können also bei manchen Spielen diese Kameraperspektive nutzen. Das ist eigentlich die beste Möglichkeit. Man hat die Vorteile eines Stadionbesuchs und sieht alles, kann aber dennoch jederzeit vor- und zurückspulen und Szenen mehrmals sehen.

Inside 11: In den Podcasts, die du für spielverlagerung.de moderierst, gibt es des Öfteren Unterschiede zur „öffentlichen Meinung“. So lobst du beispielsweise bei jeder Gelegenheit den öffentlich kaum beachteten Daniel Baier. Welcher ist deiner Meinung nach der unterschätzteste, welcher der überschätzteste Spieler?

Tobias: Manche Spieler haben es in der öffentlichen Wahrnehmung leichter als andere. Wer großartige Tricks drauf hat, wie Ribery oder Reus, wird mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen als ein Daniel Baier oder ein Danny Latza, die im Mittelfeld eher über ihre Raumintelligenz kommen. Das soll nicht heißen, Ribery oder Reus sind überbewertet. Einfach nur, dass es bestimmte Spielertypen einfacher haben als andere in der öffentlichen Gunst. Unterschätzt werden meiner Meinung nach neben Baier und Latza vor allem Weigl, Schmelzer, Rafinha, Kramer und Dahoud.

„Guardiola und Tuchel packen immer wieder Varianten aus, die ich nicht erwarte.“ – Tobias Escher

Inside 11: Du und deine Redaktionskollegen seid recht häufig einer Meinung. Aber welcher Spieler oder Trainer ist redaktionsintern der größte Streitpunkt?

Tobias: Mit Martin Rafelt streite ich mich oft über Roman Neustädter. Er ist ein großer Fan von ihm, mir fehlt etwas die Entwicklung im Passspiel. Ich bin ja aber sowieso der „Mainstream-Typ“ von Spielverlagerung. Ich feiere beispielsweise Özil oder Sergio Ramos sehr, andere SV-Autoren schätzen diese Spieler eher weniger.

Inside 11: Wann hast du zum letzten Mal eine Formation oder einen Matchplan gesehen, die dich wirklich überrascht hat?

Tobias: Öfter als man denkt. Guardiola, Tuchel, auch Nagelsmann – sie packen immer wieder Varianten aus, die ich nicht erwarte. Es ist aber jetzt auch nicht so, dass ich die Weisheit mit Löffeln gegessen habe. Oft denke ich mir bei einer Aufstellung „Okay, was soll das jetzt?“, merke aber recht schnell: „Hey, da steckt ja eine richtig gute Idee hinter.“

Inside 11: Bei Spielen, die arm an Höhepunkten sind, spricht man oft von einem „Spiel für Taktik-Liebhaber“…

Tobias: Absoluter Quatsch. Als würde ich mir gerne 0:0-Spiele anschauen, in denen der Ball nur von Abwehrspieler zu Abwehrspieler geschoben wird. Was wahr ist: Man lernt als Taktikfanatiker auch andere Dinge schätzen als Tore. Ein gutes Pressing, eine gute Defensive, eine gute Ballzirkulation kann mich auch begeistern, ohne dass Tore fallen. Andererseits leben chaotische 4:5-Spiele oft vom Spielverlauf, sind aber taktisch wenig anspruchsvoll, weil die Teams einfach alles nach vorne werfen und ohne Plan agieren. Grundsätzlich gilt aber: Auch als Taktikliebhaber mag ich Spiele lieber, bei denen was los ist. Bestes Beispiel das letztjährige Champions-League-Halbfinale zwischen Bayern und Barca, das taktisch toll, spannend und auch chancenreich war.

„Der Fußball entwickelt sich immer weiter.“ – Tobias Escher

Inside 11: Wie oft gibt es denn diese Spiele wirklich, bei denen du absolut begeistert vor dem Fernseher oder im Stadion sitzt?

Tobias: Das passiert vor allem in Champions-League-Halbfinals. BVB gegen Real, Bayern gegen Barca – das waren die Spiele, bei denen ich fassungslos vor dem Fernseher sitze. Oder auch Deutschland gegen Brasilien. Da setzt man irgendwann auch die Taktikbrille ab und denkt sich: „Was ist da bitte los?“

Inside 11: Wie hat sich der Fußball seit du ihn verfolgst verändert, und gibt es so etwas wie Taktik-Trends?

Tobias: Der Fußball verändert sich ständig. Selbst in den kleinsten taktischen Details. Vor ein paar Jahren sind Sechser noch ständig in die Abwehr gefallen, mittlerweile passiert dies viel seltener, da auch die Innenverteidiger ein Spiel aufbauen können. Auch der Druck durch Pressing hat immens zugenommen. Der Fußball entwickelt sich immer weiter.

Inside 11: Findet dieser Aspekt in anderen Ländern seitens der Fans und Medien größere Bedeutung?

Tobias: Jein. Auch in anderen Ländern ist die Taktik erst seit ein paar Jahren am Kommen. Eins stimmt aber auch, selbst wenn es ein Klischee ist: Die Italiener sind in solchen Dingen geschulter als beispielsweise die Briten.

Inside 11: Ab und an werden auch in den großen Medien Stellungsfehler aufgeschlüsselt oder gutes Pressing aufgezeigt, wie bewertest du beispielsweise die Spieltaganalyse auf Sport1 oder Erik Meijers Analysen bei Sky?

Tobias: Es ist schwierig, ein Pauschalurteil auszustellen. Es gibt gute und weniger gute Segmente. Schade finde ich, dass diese Elemente immer etwas isoliert dastehen, so nach dem Motto: „Jetzt beschäftigen wir uns zwei Minuten mit Taktik, dann haben wir das auch abgehakt.“ Ich denke, gerade die Rechteinhaber könnten viel mehr aus ihrem Bildmaterial machen. Das ist letztlich auch ein Problem von Spielverlagerung: Wir haben keine Bildrechte. Doch ein Bild sagt mehr als tausend Worte.

„Die spanische Liga ist mehr als Barca, Atletico und Real“ – Tobias Escher

Inside 11: Inwiefern interessierst du dich denn für andere Sportarten, und was könnte der Fußball von diesen lernen?

Tobias: Es gibt viele Aspekte, die man aus anderen Sportarten aufgreifen kann. Sei es das Blocken eines Gegenspielers beim Basketball oder das Aufbauspiel aus dem Hockey, das oft besser strukturiert ist als im Fußball. Man sollte nie die Augen verschließen. Ich schaue leider viel zu selten andere Sportarten, weil mir dazu die Zeit fehlt. Es steht aber auf jeden Fall auf der To-Do-Liste.

Inside 11: Zum Abschluss noch deine Antwort auf die ewige Frage: Welche ist denn nun die beste Liga Europas und warum?

Tobias: Objektiv ganz eindeutig die spanische. Ich habe neulich eine interessante Statistik gelesen: Von 45 K.O.-Duellen im Europapokal mit Teams aus anderen Ligen haben spanische Teams 42 gewonnen. Das ist eine unfassbare Zahl. Die spanische Liga ist nicht nur Barca, Atletico und Real, die sind auch dahinter sehr gut besetzt. Was man jedoch meiner Meinung nach sagen muss: Von Platz 9 bis Platz 17 ist die Bundesliga sehr stark besetzt. Taktisch richtig schwache Teams gibt es hierzulande nur noch selten.

Das Interview führte Florian Papenfuhs exklusiv für Inside 11.

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