Als Union Berlin im Sommer 2009 zum zweiten Mal in die Bundesliga aufgestiegen war, hatte Ostberlin sein kleines Fußballmärchen. Der Zuschauerschnitt verdoppelte sich von 7.000 auf 14.000 Besucher pro Heimspiel, heute verfolgen im Schnitt knapp 20.000 Fans die Auftritte von Union in der Alten Försterei. Doch nach dem verpassten Aufstieg in die 1. Bundesliga vergangene Saison brechen in Köpenick jetzt andere Zeiten an.
Berlin-Prenzlauer Berg ist ein neutraler Kiez, was den Fußball betrifft. In den Kneipen und Biergärten wird über Borussia Dortmund und Bayern München gesprochen, über Schalke und den HSV, Hannover 96 und St. Pauli. Manchmal auch über Stuttgart oder Düsseldorf, und hin und wieder sogar über die Hertha und den BFC Dynamo.
Und ab und an auch über Union. Vielleicht ist der Bezirk zu sehr von Zugezogenen durchsetzt, als dass sich ein klares Bekenntnis zu einem lokalen Fußballclub hier durchsetzen könnte. Im Hamburger Stadtteil St. Pauli wäre das praktisch undenkbar. Wer dort hinzieht und noch kein Anhänger des FC St. Pauli ist, wird das schon noch. Am Wochenende laufen einem auf der Pappelallee Menschen im Werder-Dress oder Köln-Trikot über den Weg, die ihrer Mannschaft in ihren Stammlokalen zusehen wollen. Hertha-Anhänger sucht man meist vergeblich.
Nur 19 Punkte in der vergangenen Rückrunde
Auf den Spielplätzen am Humannplatz, Kollwitzplatz oder Helmholtzplatz bolzen Mädchen und Jungs in verschiedenen Leibchen herum, Dortmund-Trikots sind ebenso vertreten wie jene des VfB, des FC Bayern oder des FC Barcelona. Kinder im Hertha-Dress oder Union-Shirt: Fehlanzeige. Nur bei genauerem Hinsehen kann man bei einem Spaziergang durch den Bezirk erkennen, dass es einen Verein gibt, der so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner ist: Union Berlin. Das verraten die „FCU“-Graffitis, die einige Hauswände zieren. Ein paar hundert Meter weiter westlich, im Wedding, undenkbar. Hier regiert die Hertha.
Der Osten hingegen findet den FCU zumindest sympathisch. Vielleicht gerade deswegen, weil der Verein letzte Saison den Aufstieg in die Bundesliga verpasst hat. „Union ist ein guter Zweit-, aber kein Erstligaclub“, das ist der vorherrschende Tenor. In Köpenick sehen sie das wohl anders. Hier ist Union praktisch allgegenwärtig, selbst die heruntergekommensten Gebäude am nördlichen Ufer des Müggelsees sind mit relativ neu anmutenden, gesprayten FCU-Schriftzügen versehen. Gartenlauben, in denen keine Flagge des Vereins weht, muss man länger suchen.
Es ist das Kernland des 1. FC Union Berlin, der Club ist bei den Menschen tief verwurzelt. Im Verein wissen sie das, sie hätten nichts lieber getan, als ihren Anhängern in der vergangenen Saison den Aufstieg zu schenken, es war das erklärte Ziel. Doch in der Rückrunde holte Union nur 19 Zähler, im Abschlussranking stand ein neunter Platz zu Buche – mit 16 Punkten Rückstand auf Platz drei und 18 auf den direkten Aufstiegsplatz. Zum Saisonende musste Uwe Neuhaus, seit 2007 Trainer bei Union, seinen Stuhl räumen.
Neubeginn an vielen Fronten
Der neue Übungsleiter heißt Norbert Düwel, auch echten Experten war der Mann bis zu seinem Engagement in Berlin nahezu unbekannt. Seine prominenteste Station: Co-Trainer von Hannover 96, von 2010 bis 2013 unter Mirko Slomka. Düwel wird nachgesagt, dass sein Training hart sei, jedenfalls deutlich härter als das seines Vorgängers. Doch das ist nicht das einzige, das neu ist in Köpenick. Ob aber alles besser ist, bleibt abzuwarten. In den ersten drei Partien der neuen Saison spielte Union dreimal remis – allerdings gegen schwere Gegner: Karlsruhe und Bochum auswärts, zu Hause gegen Düsseldorf.
Kein schlechter Start, aber auch kein guter. Der Druck, aufsteigen zu können, sollen, wollen oder müssen, er lastet nicht länger auf der Mannschaft, der Etat wurde gesenkt. Auch das ein neues Gefühl für Union. Wo es schon um Gefühle geht: nach Neuhaus‘ Abschied hatte Präsident Dirk Zingler einen „emotionalen Neustart“ ausgerufen, Neuhaus hatte er den Aufstieg 2014/15 nicht mehr zugetraut.
Als es in der Rückrunde nicht lief für die „Eisernen“, wie sie sich im Club gern selbst nennen, vom Fan über den Platzwart bis zum Präsidenten, als der Abstand also immer größer wurde zu den Aufstiegsplätzen, hatte Neuhaus sich schon in sich selbst zurückgezogen. Er konnte der Mannschaft keine Impulse mehr geben. Nach sieben Jahren im Amt in diesem kurzatmigen Fußballgeschäft kaum überraschend, doch die Mannschaft hing so ein wenig in der Luft. Mit Düwel, sagt Zingler, könne es gelingen, verborgene „Leistungsreserven aufzudecken“.
Düwels Wille zur Veränderung
Daran arbeitet Düwel mit Co-Trainer André Hofschneider und Torwartcoach Holger Bahra, die die gesamte Zeit unter Neuhaus bereits auf diesen Positionen waren. Damit verschaffte sich der neue Trainer erstmal Respekt und wirbt darum, Vertrauen und Vertraute aufzubauen. Ganz klar, beim FC Union brechen 2014 andere Zeiten an. Wohin diese führen, ist noch nicht absehbar. Denn einerseits hat Düwel mit seinem Schachzug, keine eigene Entourage mitzubringen in den Berliner Südosten, im Verein zwar Pluspunkte gesammelt.
Die Anhänger, die das Stadion in der Wuhlheide vor Jahren mit eigener Muskelkraft renoviert hatten, hat Düwel indes andererseits, nun ja, zumindest etwas irritiert. Denn um seinen Willen zur Veränderung nicht nur nach innen, sondern auch nach außen zu demonstrieren, hat der neue Trainer am Lack der absoluten Vereinsikone gekratzt. Torsten Mattuschka, seit 2005 für Union am Ball und Liebling aller Fans, hat Düwel erst die Kapitänsbinde abgenommen und ihn dann zum Ergänzungsspieler degradiert.
In einem Interview gab Düwel zwar an, die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilen zu wollen, Mattuschka habe auch ohne das Kapitänsamt ein gewaltiges Standing im Team. Doch im gleichen Interview sagte der Trainer unverhohlen, dass die Aktion ein Signal an das Umfeld sein sollte: „neue Strukturen entstehen“, so Düwel. Gleichzeitig lässt er neue Systeme spielen: mal ein 3-5-2, mal ein 3-6-1. Für die Mannschaft vielleicht etwas zu viel Veränderung auf einmal. Mattuschka schaute sich das nicht lange an.
Union befindet sich in einem Übergangsjahr
Union hatte im DFB-Pokal bei Zweitliga-Aufsteiger Heidenheim zwar ein undankbares Los, verkaufte sich beim 1:2 auf der Ostalb allerdings auch nicht gerade teuer. Nach einem 1:1 in Bochum, dieses Jahr ein ordentliches Resultat im Übrigen, setzte es im darauf folgenden Heimspiel ein klägliches 0:4 gegen den 1. FC Nürnberg, die Fans waren entgeistert. Düwel wechselte nach einer halben Stunde, brachte aber nicht Mattuschka, den besten Zweitliga-Scorer der letzten Saison. Sondern Neuzugang Kobylanski, der erst am Vortag verpflichtet worden war.
„Tusche“ hatte genug. Er suchte das Gespräch mit Cottbus, von wo er 2005 gekommen war, ein paar Tage später war der Transfer in die Lausitz fix. Dass Düwel sich vom alten FCU emanzipieren wollte, ist nachvollziehbar. Doch mit ein wenig mehr Stil wäre das sicher auch gegangen. Allerdings trat auch Mattuschka gegen Düwel und Union nach, kaum dass die Tinte unter dem Vertrag bei Energie getrocknet war.
Einen großen Vorteil indes hat Düwel: die Führungsriege von Union verlangt kein konkretes Saisonziel. Auch der Trainer selbst legt sich nicht darauf fest, auf welchem Tabellenplatz die Mannschaft die aktuell laufende Saison abschließen muss, die intern als Übergangsjahr betrachtet wird. Punkte benötigt Düwel dennoch, und das möglichst schnell. Nach der Lösung des Problems Mattuschka droht für Düwel neues Unheil am Horizont, und zwar in Gestalt der nächsten Gegner. Denn zunächst geht es wieder nach Heidenheim, dann kommt RB Leipzig nach Köpenick, und schließlich reist Union nach Kaiserslautern. Keine leichten Aufgaben.