André Schürrle ist vor anderthalb Jahren von Leverkusen aus losgezogen, um einer der ganz Großen zu werden. Es trieb ihn zu Chelsea, wo er unter José Mourinho und neben Fabregas und Drogba spielte. Vor wenigen Tagen ist Schürrle von dem Weltklub nach Deutschland zurückgekehrt, um ein Team in Niedersachsen zu unterstützen, das in den vergangenen fünf Jahren nicht ein Mal für die Champions League qualifiziert war. Viele fragen sich ob das ein Rückschritt ist. Wir sagen: Mitnichten.
Autostadt schlägt Harrods
Der VfL Wolfsburg also. Dies ist seit Montag Schürrles neue Arbeitsadresse. Zuletzt saß er bei Chelsea nicht mal mehr auf der Bank. Schlecht für Schürrles Entwicklung oder gar verschenkt, waren die letzten 18 Monate dennoch nicht. Der 24-Jährige ist im Sommer mit der Nationalelf Weltmeister geworden, hat drei Tore beim Turnier geschossen und nicht zuletzt Götzes Final-Tor vorbereitet.
Er ist einer, der sich ins Ausland getraut hat und nicht untergegangen ist – anders als beispielsweise Marko Marin, der vor wenigen Jahren ebenfalls zu Chelsea wechselte. Er hat die Erfahrung gemacht, wie es ist, nicht mehr im gewohnten Umfeld zu wohnen, weit weg von Freunden und Familie. Schürrle sagte, er fühle sich wohl in London, er mag die Cafés und die Innenstadt. Zweifelsohne wird Wolfsburg als Wohnort mit London nur schwerlich mithalten können. Schürrle wechselte dennoch. Weil er sich von diesem Wechsel etwas verspricht, was er in London zuletzt nicht mehr allzu oft hatte: Spaß an seinem Beruf.
Man kann die Zeit in England nämlich auch anders aufrollen: Nämlich so, dass Schürrle sich nie wirklich durchsetzen konnte, selbst als Weltmeister nicht. 65 Spiele hat er für den FC Chelsea gemacht, in diesen 14 Tore erzielt, gute Werte, aber keine überragenden. Er wurde stets von der namhaften Konkurrenz auf seiner Position überstrahlt, sei es der Brasilianer Willian oder der Belgier Eden Hazard. Zu wenig für einen Ehrgeizling wie ihn, der auf Facebook Videos postet, in denen er allein Sprinttraining macht. Ein Spieler, dem es Spaß macht, der Letzte auf dem Trainingsplatz zu sein.
Eine ungewohnte Rolle
In Wolfsburg heißen diese Konkurrenten nun Caligiuri, Perisic und Vieirinha. Ohne den Genannten jetzt zu nahe treten zu wollen, dürfte Schürrle bei gewohnter Leistung wohl einen Stammplatz sicher haben. Den braucht er auch, denn auch der Wechsel nach Wolfsburg hat im Endeffekt das selbe Ziel, wie das Engagement in London: besser zu werden.
Doch nicht nur die reine Spielzeit, sondern auch die Rolle in der Mannschaft wird eine andere sein. Mit einer Ablösesumme von 32 Millionen Euro ist er mehr als nur ein normaler Wintertransfer. Schürrle ist gleichzeitig eine Galionsfigur für den Angriff des VfL auf den Spitzenplatz der Bundesliga. Er ist der neue Star der Niedersachsen, alle Augen werden auf ihm ruhen. Der Redkordtransfer des früheren Mainzers ist der nächste logische Schritt in der neuen Wolfsburger Ausrichtung, Spitzenspieler zu kaufen, die es bei den ganz großen Vereinen schwer hatten, zu Spielzeit zu kommen (Gustavo vom FC Bayern, De Bruyne von Chelsea).
In dieser Rolle war Schürrle bis jetzt noch nie, jedoch wird er sie begrüßen. Egal ob bei Chelsea oder beim DFB – überall war er der Top-Joker, der gute Leistungen brachte, sobald man ihn einwechselte. So schoss er zwei Tore beim 7:1-Halbfinalsieg gegen Brasilien, allerdings „nur“ das 5:0 und das 6:0. Selbst die Vorlage zum goldenen Finaltreffer gab er nach einer Einwechslung. Diese Leistung will niemand schmälern, das entscheidende Tor jedoch erzielte Götze. Und so werden auch in 20 Jahren noch alle über das Götze-Tor reden, an die Vorlage kann sich dann wahrscheinlich kaum noch jemand erinnern. André wer?
Schürrle hinkt hinterher
Dieses Szenario zu verhindern, ist wohl der Hauptgrund für die Rückkehr in die Bundesliga. Schürrle wird angetrieben von der Gier nach Titeln und zwar solche, die mit ihm in Verbindung stehen. Denn in dem Punkt der Anerkennung läuft er wohl den anderen Weltmeistern seiner Generation hinterher, gerade im Bezug auf seine Position. Mario Götze – seinen Final-Treffer mal außen vor gelassen – spielt beim FC Bayern München, war dort der „Wunschspieler“ von Pep Guardiola und durfte mit seinen 22 Jahren schon den Gewinn von drei deutschen Meisterschaften feiern. Dazu gewann er bereits zweimal den DFB-Pokal und die FIFA-Klub-WM. Thomas Müller hat ähnliche Erfolge vorzuweisen, ist dazu noch Champions-League-Sieger.
Bei Schürrle steht neben dem WM-Pokal bis jetzt nur der Gewinn der A-Jugend-Meisterschaft auf der Haben-Seite. Deutlich zu wenig für einen Spieler seines Potentials. Selbst der bei der WM verletzungsbedingt abwesende Marco Reus steht – die allgemeine Anerkennung betreffend – international klar vor Schürrle. Er ist Aushängeschild von Borussia Dortmund, Top-Werbefigur von Puma und darf sich im Sommer seinen neuen Verein wohl aussuchen.
Schürrle hat das Potential, nebst diesen Größen des deutschen Fußballs zu bestehen. Sollte der VfL in diesem oder im nächsten Jahr die Meisterschaft holen, dürfte Schürrle wohl klar damit in Verbindung stehen. Dies wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung. André Schürrle hat Anlagen, von denen viele Fußballer in diesem Land nur träumen können.
Ein Spiegelbild von Arjen Robben
Schürrle ist schnell. Verdammt schnell. Er weiß um seine großartige Dynamik, und so versucht er im Spiel permanent Vorteile daraus zu ziehen. Es scheint, als kenne er auf dem Platz nur die Höchstgeschwindigkeit. Immer wieder rennt er auf die gegnersiche Abwehr zu, wägt ab, ob er flankt, schießt oder noch weiter läuft. In diesem Moment grenzt er sich ab von all den Sprintwundern des Fußballs, denen es dafür an Technik und Schussgewalt mangelt.
André Schürrle hat einen hervorragenden rechten Fuß und versucht permanent ihn einzusetzen. Wenn man sich Szenen des frisch gebackenen Wolfsburgers so ansieht, könnte man meinen, da hat jemand die Tore Arjen Robbens gespiegelt. Darüber hinaus besitzt er einen guten Abschluss vor dem Tor und weiß ab und an auch seine Nebenmänner einzusetzen.
Das Einzige was Schürrle in den letzten Jahren abging war die Spielpraxis, um all diese Fähigkeiten festigen und ausbauen zu können.Unter diesem Aspekt war der Wechsel nach Niedersachsen für Schürrle ein logischer Schritt, schließlich lockte eben jene Spielpraxis vor einem Jahr einen anderen Chelsea-Reservisten nach Wolfsburg, der mittlerweile in aller Munde ist. Warum sollte das bei Schürrle nicht auch klappen?