„WM 2026 in Kasachstan? Bei der FIFA kann ich mir Alles vorstellen“

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Kasachstan will sich für Weltmeisterschaft 2026 bewerben – was aufgrund der politischen und gesellschaftlichen Situation dort eine ähnliche Diskussionswelle wie Katar 2022 auslösen wird. Exklusiv für Inside 11 hat Weltfußball-Kenner und Fußballbuchautor Hardy Grüne – Mitherausgeber des Fußball-Magazins „Zeitspiel“ – uns Einblicke in sein Wissen gewährt und seine Ansichten zum Vorhaben der Kasachen mitgeteilt.

Inside 11: Hallo Herr Grüne, vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns nehmen. Mitte Dezember letzten Jahres verkündete die Nachrichtenagentur Kazinform, dass sich Kasachstan für die WM 2026 bewerben will. Wie war Ihr erster Eindruck?

Hardy Grüne: Ich war sehr überrascht, aber dann ist es auch wieder nicht überraschend, denn zuletzt kamen WM-Bewerbungen ja häufig aus Ländern mit wenig demokratischen Verhältnissen. 2018 ist Russland an der Reihe und die Diskussion über Katar ist allgemein bekannt. Es ist sicher auch eine Konsequenz aus der undurchsichtigen FIFA-Politik, die ja selber wenig demokratisch agiert.

Inside 11: Sie haben viel über Fußball geschrieben, eines der bemerkenswertesten Werke ist die zweibändige „Enzyklopädie des Weltfußballs“, die Ihr tiefes und vielfältiges Sachwissen widerspiegelt. Was können Sie uns über den Fußball in Kasachstan erzählen?

Grüne: Fußball hat nie wirklich eine große Rolle im Land gespielt. Die Strukturen wurden zu UdSSR-Zeiten gelegt, und mit Kairat Alma-Ata spielte eine Zeitlang ein kasachischer Klub in der höchsten Sowjetliga. Der erste Klub entstand 1913 im späteren Atomzentrum Semipalatinsk. Erst in den späten 1920er Jahren entstanden im Zuge der Industrialisierung der Gegend in den größeren Orten Fußballklubs. Zumeist Ableger der großen Sportorganisationen Dynamo, Lokomotive und Spartak.

Man darf aber nicht vergessen, dass Kasachstan erst 1926 an das russische Eisenbahnnetz angeschlossen wurde. Zwei Jahre später fuhr erstmals eine kasachische Auswahl zur Spartakiade und 1960 stieg Kairat Alma-Ata dann zum ersten Mal in die 1. Liga auf. 24 Jahre spielte der Klub dort mit. Im Grunde genommen kann man aber sagen, dass der kasachische Fußball zu Sowjetzeiten eher ein sowjetischer beziehungsweise russischer war. In der UdSSR war es zu massenhaften Zwangsansiedlungen von Russen, Ukrainer und Wolgadeutschen im Gebiet des heutigen Kasachstan gekommen. Die Kasachen zeigten weniger Interesse am Fußball. Das ist ja ursprünglich auch ein Nomadenvolk.

Nach dem Zerfall der UdSSR schloss sich Kasachstan zunächst dem asiatischen Verband an, spielte dort mit wenig Erfolg. Das änderte sich erst, als Ex-KP-Sekretär Nasarbajew die politische Führung übernahm. Seitdem ist Kasachstan im großen Sport aktiv. Zunächst im Radsport, wo man mit dem Team Astana eine eher umstrittene Equipe stellte. Starfahrer Vinokourov wurde ja später des Dopings überführt.

Astana ist übrigens der Name der neuen Hauptstadt. Seit 1995 ist Astana und nicht mehr Almaty – früher Alma-Ata – Kasachstans Hauptstadt. Damit wollte man wohl auch den Einfluss südkasachischer Clans eindämmen und verhindern, dass der russisch orientierte Norden sich abspaltet. Alles in allem eine schwierige Gemengelage. Und wohin das führt, kann man ja gerade in der Ukraine beobachten.

Seit 2003 ist Kasachstan nun in der UEFA und seitdem hat sich viel entwickelt. Hier und da gab es ein paar Erfolge, und mit Peter Neustädter schaffte ein Kasache – mit deutschen Wurzeln – in der Bundesliga den Durchbruch.

Inside 11: Wäre Kasachstan denn überhaupt dazu fähig, eine Fußball-WM auszurichten?

Grüne: Die WM-Bewerbung sehe ich vor allem als politisches Signal und nicht als Ausdruck einer überschäumenden Fußballbegeisterung. Sicher hätte Kasachstan aber die monetären Mittel und auch die politischen Strukturen, so ein Turnier zu organisieren. Ob das für die Fußballwelt nun wirklich ein Glücksfall wäre, sei dahingestellt.

Insgesamt muss man sich aber wohl unter der gegenwärtigen FIFA-Führung darauf einstellen, öfters Bewerbungen von Ländern wie Kasachstan zu bekommen. Es gibt nicht mehr so viele Länder, die ein derartiges Turnier ausrichten können und in den demokratisch geführten Ländern ist die Skepsis bezüglich der UEFA-Politik und der enormen Kosten riesig. Großbritannien wäre wohl noch ein geeigneter Kandidat. Nachdem die WM 2018 in Russland stattfindet, ist die Austragung 2026 in Kasachstan ja eigentlich nicht möglich – eigentlich.

Inside 11: Könnten Sie sich vorstellen, dass die FIFA trotzdem pro Kasachstan entscheidet?

Grüne: Bei der FIFA kann ich mir alles vorstellen.

Inside 11: Was wären Kritikpunkte an einer Austragung in Kasachstan?

Grüne: Mangelhafte Fußballtradition, wenig fußballaffine Städte. Aber man sollte auch die positiven Punkte sehen, denn für die ganze Region wäre eine WM natürlich eine Riesensache. Und da sind ja auch noch Länder wie Usbekistan oder Kirgistan, die davon sicherlich auch profitieren würden. Insgesamt müssen wir uns davon verabschieden, dass eine WM immer nur in „bekannten“ Ländern durchgeführt wird. Auch der Rest der Welt hat das Recht auf WM-Turniere. Selbst Katar, wenn ich persönlich das auch sehr kritisch sehe.

Inside 11: Sie sind außerdem leidenschaftlicher Radfahrer, tourten kürzlich durch die Anden. Peru, Ecuador und Kolumbien kündigten ebenfalls ihre Bewerbung für 2026 an. Wo hätten Sie die WM am liebsten?

Grüne: Ecuador hat eine phantastische Entwicklung genommen. Da ist man wirklich auf einem guten Weg, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Fußball ist sehr wichtig, da stimmt also alles. Aber eine WM sehe ich eher als Gefahr für die ökonomische und soziale Politik. Da kann möglicherweise durch so ein Turnier mehr kaputt gehen, als dass es was bringt. Peru noch mehr, da ist der Lebensstandard ja deutlich geringer. Da habe ich wirklich eine Zwei-Klassen-Gesellschaft kennengelernt und Korruption ist ein großes Thema.

Ich glaube, am sinnvollsten wäre wohl eine WM über mehrere Länder, damit nicht eine Nation alles schultern muss. Für 2030 liegt ja meines Wissens ein Interesse von Uruguay vor, das 1930 das erste Turnier ausrichtete. Auch da wieder: eigentlich nicht zu wuppen, gemeinsam mit einem Nachbarn möglicherweise aber doch.

Inside 11: Nochmals vielen Dank für das Interview, alles Gute für die Zukunft und natürlich noch viel Erfolg als Fan von den Bristol Rovers und von Guingamp!

Grüne: Gerne!

Das Interview führte Lukas Brandl exklusiv für Inside 11.

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