In ein paar Wochen startet die EM. Noch bleibt also genug Zeit, bis dahin ausführlich die Kader zu analysieren, die ein jeder Verband langsam aber sicher bekannt gibt. Inside 11 schaut sich die Top-Teams einmal an. Den Anfang macht der amtierende Weltmeister: Deutschland.
Zahlreiche Kandidaten für die weiße Weste
Wie kein anderer Trainer weltweit hat Jogi Löw auf der Torwartposition überhaupt keine Sorgen. Angenommen Manuel Neuer, Marc André ter Stegen und Bernd Leno fielen aus. So würden wahrscheinlich Kevin Trapp, Ron-Robert Zieler und Ralf Fährmann zur EM fahren.
Dieses Beispiel verdeutlicht, es ist nahezu irrelevant, welchen der vielen Kandidaten Jogi Löw in „die Mannschaft“ beruft, da sie alle auf einem unglaublich hohen Level agieren. Manuel Neuer ist als bester Torwart der Welt dennoch natürlich gesetzt.
Viererkette als Problemzone
Im grandiosen deutschen Kader ist die Viererkette am ehesten als Schwachstelle zu bezeichnen. Das mag sich in der Innenverteidigung noch nicht so bemerkbar machen. Jerome Boateng ist einer der besten, wenn nicht der beste Innenverteidiger, den es momentan gibt.
Nebenmann Hummels hat sich nach einer katastrophalen letzten Saison in dieser Spielzeit gefangen und wieder gewohnt stabil und zuverlässig gezeigt. Der DFB verfügt über eine sehr spielstarke Innenverteidigung, was der Spielanlage von Löw zugute kommt.
Wer spielt außen?
Auf den Außenpositionen kann Löw nicht zwischen mehreren verschiedenen Kandidaten wählen. Auf der linken Abwehrseite scheint sich Jonas Hector durchgesetzt zu haben, der eine gute Saison spielte, jedoch bei Weitem (noch) nicht das Niveau der Innenverteidigung erreicht.
Schmelzer wurde zuletzt gar nicht mehr berücksichtigt, was eventuell auch an seiner speziellen Rolle beim BVB liegt. Unter Tuchel agiert der Linksverteidiger beinahe als Linksaußen. Aufgrund der guten Offensivarbeit hätte jedoch auch Schmelzer eine Alternative sein können, zumal es hinter Hector keinen weiteren gelernten Linksverteidiger gibt.
Auf der gegenüberliegenden rechten Seite gilt es, das Loch zu füllen, das Philipp Lahm hinterließ. Der Kapitän der Weltmeistermannschaft bringt bei Bayern München immer noch Top-Leistungen, hatte sich jedoch nach der WM in Brasilien aus der Nationalmannschaft verabschiedet.
Hier wird wahrscheinlich Emre Can einen Platz finden. Can ist zweikampfstark und hat einen guten Umgang mit dem Ball, ist allerdings kein typischer Rechtsverteidiger, der temporeich nach vorn marschiert und Flanken schlägt. Er ist ein ziemlich kompletter Mittelfeldspieler, was es ihm erlauben würde, bei Ballbesitz der DFB-Elf ins Mittelfeld vorzurücken und dieses mit seiner Dynamik und seiner Ballsicherheit zu unterstützen. Auch Cans Dribblings und Distanzschüsse könnten Löws Team dabei helfen, tiefstehende Gegner zu knacken.
Die Rechtsverteidiger-Position weist jedoch ebenfalls das Manko auf, dass es annähernd keine Konkurrenz zum Stammpersonal gibt. Auch hier hätte man beim BVB fündig werden können, beispielsweise Matthias Ginter spielte eine ausgezeichnete Hinrunde.
Sind aller guten Dinge drei?
Nimmt man den von Jogi Löw vorläufig nominierten Kader, ist unter den 27 Spielern ein (!) gelernter Außenverteidiger, in Person von Jonas Hector. Dass eben diese Position während des Turniers Probleme bereiten könnte, ist keine allzu steile These. Im Gegensatz hierzu steht die Innenverteidigung, die mit Mustafi, Höwedes oder Rüdiger auch in der Tiefe sehr gut besetzt ist.
Diese Tatsache spricht auch dafür, dass die Dreierkette, die Deutschland bereits in den letzten Testspielen gezeigt hat, für Löw eine ernstzunehmende Alternative ist. Gerade gegen tiefstehende Gegner hätte Löw so einen weiteren Platz im Mittelfeld, der der Offensive helfen könnte, Torchancen zu kreieren.
Verletzungspech im Mittelfeld
Gündogan, Khedira, Schweinsteiger. Drei Spieler die zweifellos wichtig für die deutsche Nationalmannschaft sind. Neben dieser Gemeinsamkeit sind außerdem auch noch alle drei verletzt. Während Ilkay Gündogan definitiv längerfristig ausfällt, werden Schweinsteiger und Khedira ihre Verletzungen zeitnah ausgeheilt haben, wobei jedoch fraglich ist, ob sie der Mannschaft in diesem Zustand helfen können.
Es wird also gerade zu Beginn des Turniers auf Toni Kroos ankommen, der bei Real Madrid einen großen Schritt nach vorn gemacht hat. Den vakanten Platz neben ihm könnte Löw je nach Gegner und Spielidee anpassen. Generell in Frage kommen würden neben Can oder Rudy auch die beiden Talente Weigl und Kimmich, die sich beim BVB bzw. beim FC Bayern in guter Verfassung präsentiert haben.
Beide sind jedoch noch sehr unerfahren und Rudy hat bei Weitem nicht die Klasse von Kroos, Khedira oder Schweinsteiger. Hinzu kommt, dass von diesen drei Kandidaten lediglich Kimmich schon auf höchstem internationalen Niveau gespielt hat und das auch erst eine halbe Saison. Die Tiefe, die die DFB-Elf also in der Innenverteidigung aufweist, vermisst man im zentralen Mittelfeld.
Daher würden ein einsatzbereiter Schweinsteiger oder Khedira sicherlich einiges zur Entspannung des Bundestrainers beitragen, auch wenn Can und Kroos die Qualitäten haben, das deutsche Spiel aus der Mitte heraus zu lenken und zu stabilisieren.
Das Prunkstück… oder?
Das offensive Mittelfeld gilt als das Prunkstück des deutschen Kaders. Zurecht? Ja und Nein. Ruft man sich die Namen der Kandidaten für die Außenpositionen und die Zehn einmal ins Gedächtnis (Götze, Schürrle, Draxler, Müller, Bellarabi, Sané, Brandt, Özil, Reus) ist das, gerade auch im Vergleich mit anderen großen Nationen, sehr viel Qualität über die Deutschland verfügt.
Problematisch ist in diesem Mannschaftsteil lediglich, dass viele der Kandidaten momentan ihr Potential nicht ausschöpfen können. André Schürrle hat in der letzten Saison sehr wenig gute Spiele gemacht, Julian Draxler war der vielleicht beste Spieler des VfL in der abgelaufenen Saison, was aber natürlich auch an der erschreckend schwachen Leistung der Wölfe liegt.
Mario Götze ist ebenfalls ein gutes Stück entfernt von seiner Top-Form. Dazu wird ein Kaderplatz zu 99 Prozent noch von Lukas Podolski besetzt, für dessen Nominierung es keine leistungstechnischen Gründe gibt. Podolski ist aufgrund seiner Erfahrung und seiner allem Anschein nach wichtigen Rolle für die Teamchemie zwar eine nachvollziehbare Nominierung, fällt qualitativ mittlerweile aber gegenüber all seinen Kontrahenten stark ab.
Reus! Özil! Müller!
Welche Personalien machen Hoffnung? Marco Reus blickt mit dem BVB auf eine sehr gute Saison zurück, Thomas Müller auf die vielleicht beste seines Lebens, zumindest lassen die 20 Tore in der Bundesliga das vermuten.
Karim Bellarabi zeigte sich, gerade zum Ende der Saison, in guter Verfassung und auch Julian Brandt und Leroy Sané, von denen wahrscheinlich nur einer den Weg in das endgültige Aufgebot finden wird, haben seit dieser Spielzeit ihren Durchbruch hinter sich. Zu guter Letzt sollte man auch Mesut Özil nicht vernachlässigen, der gefühlt mehr Scorerpunkte lieferte, als Arsenal überhaupt Tore geschossen hat.
Als Option für die Spitze hat Löw ebenfalls jemanden berufen, der im Ausland sehr erfolgreich ist: Mario Gomez. Der ehemalige Spieler von Stuttgart und Bayern München wurde Meister mit Besiktas Istanubul. Am Gewinn der Trophäe hat der kantige Mittelstürmer mit 32 Scorerpunkten in 33 Spielen einen Riesenanteil. Gomez kehrte auf Grund seiner tollen Leistungen schon während der laufenden Saison zurück in die DFB-Elf, völlig offen ist jedoch, ob er auch bei der EM Spielpraxis erhält, bzw. wieviel.
Denn aus den vielen Offensivspielern, über die Deutschland verfügt, ein funktionierendes Konstrukt zu schaffen, wird für Löw eine essentielle Aufgabe sein, deren Lösung womöglich über den Turnierausgang entscheidet.
Flexibilität in der Offensive
Noch recht einfach ist die Frage, ob Löw mit klassischem Mittelstürmer agiert oder eine Falsche Neun auflaufen lässt. Die DFB-Elf ist hier recht variabel, so fanden beide Systeme ihren Weg auf den Platz in den Test- und Pflichtspielen der letzten Zeit.
Diese grundsätzliche Frage ist recht eng mit zwei Personalien verknüpft, will Löw einen klassischen Mittelstürmer, setzt er auf Gomez. Für die Rolle der Falschen Neun kommt wohl nur Götze in Frage. Deutschland wird mit Sicherheit auf beide Systeme während des Turniers zurückgreifen, der Zeitpunkt ist abhängig von eigener Form und der Spielidee des Gegners.
Für die Reihe hinter dem Stürmer gibt es zahlreiche Optionen. Generell kann jedoch gesagt werden, dass aufgrund der Spielphilosophie und der Favoritenrolle Deutschlands, Löw nur schwerlich auf Konterspieler wie Podolski, Schürrle und Bellarabi zurückgreifen kann. Gerade die beiden letzteren können jedoch eine enorme Wirkung haben, wenn sie eine Jokerrolle übernehmen. Ein Spieler wie Özil dürfte durch seine große spielerische Klasse gesetzt sein, er muss bei Ballbesitz im letzten Drittel, wenn es darum geht Chancen zu kreieren, zum wichtigen Baustein werden.
Thomas Müller ist mit seiner überragenden Antizipation und seiner brutalen Qualität im Abschluss ebenfalls sehr wichtig, auch Marco Reus bringt eine Geschwindigkeit und Durchschlagskraft mit, die helfen kann den gegnerischen Beton zu lösen. Darüber hinaus ist er ein guter Distanz- und Freistoßschütze, falls Deutschland Probleme hat sich klare Tormöglichkeiten zu erarbeiten.
Unter dem Aspekt dass fast jeder Gegner des DFB den Bus vor dem eigenen Tor abstellt, gibt es auch keine Alternative zur Berufung von Leroy Sané in den finalen 23er Kader. Erfahrung hin oder her, der junge Schalker traut sich in Eins-gegen-Eins-Duelle und gewinnt auch recht häufig. Eine Fähigkeit, die gegen tiefstehende Gegner Gold wert sein kann und über die im deutschen Kader allenfalls noch Julian Draxler verfügt. Von den beiden sollte keiner für die Startelf eingeplant werden, dennoch wären sie mit Sicherheit eine große Hilfe auf dem Weg nach Paris.
Hoffen auf Kroos
Wie man sieht, steckt der Kader des deutschen Teams voller Potential. Der Trainer hat nun die Aufgabe, die PS auf die Straße zu kriegen. Diese Aufgabe hat er 2014 mit Bravour gelöst und somit bewiesen, dass er dazu in der Lage ist. Verletzungen und Formschwächen kann allerdings auch er nicht oder nur bedingt beeinflussen.
Im Mittelfeld könnte es arge Probleme geben, sollten Kroos und sein Partner nicht direkt funktionieren, denn in der Defensive ist Deutschland ebenfalls anfällig. Setzt Löw auf Außenverteidiger, bleiben beide Kandidaten (Can und Hector) bis hierhin den Beweis schuldig, dass sie es mit den Ronaldos, Bales und Hazards dieser Welt aufnehmen können. Das heißt jedoch nicht, dass sie diesen Beweis nicht genau im richtigen Moment bringen können.