Wie mächtig ist König Fußball in Indien?

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Indien verbindet man in erster Linie mit Hockey und Cricket. Doch auch für Fußball können sich viele aus dem Milliardenvolk begeistern. Die Unterschiede zum europäischen Spitzenfußball sind deutlich. Dennoch bietet der indische Fußball eine Chance – auch für Bundesligisten. Eine Reportage von Stefan Foag.

Leidenschaftliche Duelle bei den Kleinsten

Sechs Minuten noch im Belilious Park in Kalkutta. Keiner wankt. Es ist schwer, aber die Spieler geben nicht auf. Wie könnten sie auch? Eine Fußballpartie wie diese ist alle drei Tage – doch wann sieht man ein solches Spiel, so ausgeglichen, so packend?

Jetzt Kishon am linken Flügel. Sein Zuspiel zu Sarman wird von den Gegnern abgewehrt und Junaid – immer wieder Junaid – der bullige Stürmer am Ball. Er hat den Ball verloren diesmal, gegen Kishon. Kishon flankt nach innen. Abschluss, abgewehrt! Aus dem Hintergrund müsste Ali schießen. Ali schießt!

„Goaaaaaaal! Goaaaaal! Goaaaaaal!“ – die fünf Knirpse aus dem Team des Torschützen jubeln als hätten sie die Weltmeisterschaft gewonnen. „Tin – Do“, brüllt der sechsjährige Mohamed Ali enthusiastisch und lässt damit nochmals alle wissen, dass es nun drei zu zwei steht.

Gerade er, einer der Jüngsten, hat seine Mannschaft in Führung gebracht und ist daher besonders stolz. Es folgen packende Schlussminuten, in denen das zurückliegende Team versucht, den kleinen Softball noch einmal in das gegnerische Tor zu befördern. Zweikämpfe werden hier, trotz der harten Steinfliesen, auf denen die Jungs spielen, nicht gerade zimperlich geführt.

Unterstützung von Weltmeistern

Doch da sich die Sonne nun gänzlich verabschiedet hat, ist es Zeit nach Hause zu gehen. Auf den Schlusspfiff reagieren die zehn Kinder mit einem klagenden „Ooooh brother!“, welches sich an die zwei jungen Männer richtet, die mit ihnen unterwegs sind. Diese kommen aus Deutschland und leisten einen Freiwilligendienst in dem Bildungsprojekt H.E.L.G.O. e.V.

Morgens unterrichten sie die quengelnde Meute, die sich jetzt ungern vom Spielfeld bewegt. Jedes dieser Kinder müsste ohne die Unterstützung des Projekts arbeiten gehen, um im Alltag der Slums von Kalkutta zu überleben. Seit vielen Jahren ermöglicht die Schule von H.E.L.G.O. Jungen und Mädchen aus den Armenvierteln die Chance auf eine bessere Zukunft.

Hierfür kommen stets zwei Volontäre aus Deutschland, die den Unterricht wie die sonstige Arbeit der Einrichtung für ein Jahr unterstützen. Zwar ist es für diese als Lehrer anfangs nicht immer einfach sich durchzusetzen, doch beim Thema Fußball haben sie stets ein gewichtiges Argument: Deutschland ist Weltmeister! Folglich müssen Deutsche natürlich sehr gut wissen, wie man kickt.

Fußball-Talk in den Gassen Kalkuttas

Unwillig ziehen die Grundschüler ihre Schuhe an und machen sich auf den Weg. Dass sie aus der ruhigen Oase nur ungern verschwinden, ist nur allzu verständlich. Der weitläufige Park ist versehen mit großen Wiesen, einem Spielplatz und einer großen Tribüne, vor der sie regelmäßig kicken. Auf einer Palmenallee, entlang des kleinen Sees in der Mitte des Parks geht es nun Richtung Ausgang.

Dort wartet bereits der lärmintensive Alltag des Armenviertels. In den mit Straßenständen vollgespickten Gassen kämpfen Autos, Fahrradrickschas und Fußgänger gleichermaßen um Platz. Um auf sich aufmerksam zu machen, versucht jeder mit seiner Hupe oder der Stimme die anderen zu übertönen.

Unbeeindruckt von all dem schlängeln sich die Kinder, parallel zur offenen Kanalisation, den Straßenrand entlang. Gesprächsthema Nummer eins: Atletico de Kolkata. Wie soll es auch anders sein, heute Abend ist Heimspiel.

Zweimal erste Liga

Da in der Indian Super League nur zwei Monate im Jahr gespielt wird, ist die Begeisterung umso verständlicher. In dieser Liga wird gerade erst die dritte Saison ausgetragen. Es gibt lediglich acht Teams, die als Franchise fungieren und weder auf- noch absteigen können.

Parallel existiert im indischen Erstligafußball die I-League, die auch gerade mal neun Jahre alt ist, jedoch Auf- und Absteiger kennt. Hier fließen deutlich weniger Gelder als in der Super League, wobei auch hier die Kommerzialisierung deutlich erkennbar ist. Kingfisher East Bengal, ein Club, der ebenfalls in Kalkutta ansässig ist, sei hier als Beispiel erwähnt.

Weltstars bereichern die Liga

Beliebter ist allerdings die Super League, auch da sie für Werbekampagnen deutlich größere finanzielle Mittel hat. Die Vereine selbst schaffen es immer wieder, ehemalige europäische Spitzenspieler in ihre Stadt zu locken – was ebenfalls für ein wachsendes Interesse sorgt.

So beendete zum Beispiel Ex-Bundesligastar Manuel Friedrich seine Karriere beim Mumbai City FC. Für den gleichen Verein war der ehemalige Chelsea-Stürmer Nicolas Anelka aktiv. Weltstar Lucio lässt derzeit seine bemerkenswerte Spielerlaufahn beim FC Goa ausklingen.

Die Kinder auf dem Nachhauseweg können sich als Atletico-de-Kolkata-Anhänger in erster Linie über den einstigen Nationalspieler Portugals Hélder Postiga freuen. Der Verein stellt für europäische Augen das eindeutigste Franchise dar. Trikots und Wappen lassen keine Zweifel hinsichtlich der Ähnlichkeit zu Atletico Madrid zu.

Exotische Heimspielkultur

Kolkatas Fußballstadion kann sich auch sehen lassen: 68.000 Menschen finden im Salt Lake Stadium Platz. Ein Heimspiel ist dort immer ein Riesenspektakel, auch wenn so manches für unsereins etwas dubios erscheinen mag. Jeder Anpfiff und jedes Tor wird mit einem Feuerwerk vom Spielfeldrand zelebriert.

Bemerkenswert ist, dass im Falle eine Tores der Gastmannschaft auf die gleiche Weise gefeiert wird. Alle Zuschauer sind stets guter Dinge, gefühlt unabhängig vom Spielstand. Statt grölendem Fangesang setzt man dort allerdings den Fokus in erster Linie auf Tanzeinlagen, die für die nötige Stimmung auf allen Rängen sorgen.

Von Träumen und Vorbildern

Von einem Stadionbesuch können unsere Slumkinder leider nur träumen. Immerhin bekommen sie genügend Gelegenheiten, ihren Stars nachzueifern. Jeden Samstag wie Sonntag haben sie richtiges Fußballtraining. Mit Fußballschuhen und Trikots können sie Dank des sozialen Projektes, in dem sie zur Schule gehen, auf Kunstrasen trainieren.

Istequarul ist heute nicht im grünen Shirt erschienen, wie es alle einheitlich normalerweise tragen. Stolz präsentiert er allen sein neues FC-Barcelona-Trikot. Die sichtliche Fälschung tut dem Neid der anderen keinen Abbruch.

Jeder kann sich hier mit Neymar, Messi & Co. identifizieren. Zudem sind Real Madrid, Manchester United und ein paar andere Klubs aus der Premier League sehr beliebt. Für die Bundesligamannschaften haben die Knirpse allerdings wenig übrig. Dies zeigt einmal mehr, wie sehr es die Vereine aus Deutschland in den letzten Jahren versäumt haben, sich international zu repräsentieren.

Chancen für den deutschen Fußball

Cricket ist nach wie vor die Sportart Nummer Eins auf dem Subkontinent mit 1,3 Milliarden Einwohnern. Doch die Faszination für Fußball wird weiter steigen. Damit geht ebenso ein wachsendes Interesse für internationale Spitzenligen einher. Die großen Bundesligavereine sollten es nicht verschlafen, die Chance sich auf jungen Märkten wie der in Indien zu repräsentieren und damit größere globale Bedeutung zu erlangen.

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